Friedensnobelpreis 1999: Ärzte ohne Grenzen

Friedensnobelpreis 1999: Ärzte ohne Grenzen
Friedensnobelpreis 1999: Ärzte ohne Grenzen
 
Das internationale Netzwerk von Medizinern für Nothilfe in Krisen- und Katastrophengebieten wurde für seine bahnbrechende humanitäre Arbeit auf mehreren Kontinenten mit dem Nobelpreis geehrt.
 
 
Médecins Sans Frontières/Ärzte ohne Grenzen (MSF), 20.12.1971 Zusammenschluss französischer Ärzte und Journalisten als Médecins Sans Frontières, 1972 erster offizieller Einsatz nach einem Erdbeben in Nicaragua, 1976 erste Hilfsaktion in einem Kriegsgebiet (Libanon), 1979 Abspaltung der Médecins du Monde (MDM), ab 1989 Hilfsprogramme auch in Osteuropa, 1993 Auszeichnung mit der Nansen-Medaille.
 
 Würdigung der preisgekrönten Leistung
 
Die Bilder, die von den Medien täglich aus den Krisen- und Katastrophengebieten der Erde verbreitet werden, sind erschreckend: von Granaten oder Minen zerrissene Kriegsopfer, Menschen, die bei einem Erdbeben von den Trümmern einstürzender Häuser erschlagen oder nach einem Vulkanausbruch unter Schlammströmen begraben werden, grauenhaft Verstümmelte nach einem Massaker, zu Skeletten abgemagerte Kinder in einem Flüchtlingslager. Bilder, die jedoch nur einen vagen Eindruck von dem Elend vermitteln, mit dem die Mitarbeiter von Ärzte ohne Grenzen in diesen Gebieten konfrontiert werden.
 
Als die Gründer von Médecins Sans Frontières am 20. Dezember 1971 in Paris zusammentraten, wollten sie ihre Vision von einer Hilfsorganisation neuen Typs verwirklichen. Nach den Erfahrungen einiger französischer Ärzte während des Biafra-Kriegs (1968-71) und der Überschwemmungen in Ostpakistan (heute Bangladesch) Anfang der 1970er-Jahre wollten die Mediziner eine Organisation schaffen, die sich von den bereits existierenden unterschied: Ärzte ohne Grenzen sollte sich auf medizinische Nothilfe in Kriegs- und Krisengebieten spezialisieren, regierungsunabhängig sein, freien Aktionsradius haben und den Opfern auf allen Seiten eines Konflikts helfen. Darüber hinaus sollten die Mitarbeiter öffentlich Stellung beziehen, wenn sie selbst Zeugen von massiven Menschenrechtsverletzungen oder schweren Verstößen gegen das humanitäre Völkerrecht werden. Während andere Organisationen, wie das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) ihren Mitarbeitern ausdrücklich ein Schweigegebot auferlegen, will Ärzte ohne Grenzen ein Sprachrohr sein für Menschen in Not.
 
Aus der ursprünglich französischen Organisation entwickelte sich in den 1980er- und 1990er-Jahren ein internationales Netzwerk. Dieses Netzwerk besteht heute aus 18 unabhängigen Sektionen, die Projekte in mehr als 80 Ländern weltweit betreuen. Rund 3000 internationale und 10 000 nationale Mitarbeiter arbeiten jährlich in den Projekten in Afrika, Asien, Lateinamerika und Europa. Die Organisation, die sich der Unparteilichkeit und Neutralität verpflichtet hat, finanziert sich aus Privatspenden sowie institutionellen Mitteln und arbeitet unabhängig von wirtschaftlichen, religiösen oder politischen Einflüssen. Um diese politische und wirtschaftliche Unabhängigkeit zu bewahren, hat sich Ärzte ohne Grenzen selbst verpflichtet, mindestens 50 Prozent der Einnahmen aus privaten Spenden zu finanzieren. Die freiwilligen Mitarbeiter, die sich durchschnittlich für einen Zeitraum von sechs bis zwölf Monaten für ein Projekt verpflichten, gehören hauptsächlich folgenden Berufssparten an: Ärzte und Ärztinnen, Pflegepersonal, Logistiker, Ernährungswissenschaftler, Hebammen und Finanzexperten.
 
 Überleben sichern — und nicht schweigen
 
Ärzte ohne Grenzen leistet schnelle, professionelle, unbürokratische Hilfe für alle Opfer, unabhängig von ihrer Nationalität, Hautfarbe oder Religion. Dazu gehören vor allem Hilfsaktionen für Menschen, die durch Krieg, Naturkatastrophen oder den Zusammenbruch von Gesellschaftsstrukturen in Not geraten sind. In nahezu allen Krisen- und Katastrophengebieten der Welt waren und sind die Helfer seit dem Beginn der 1970er-Jahre im Einsatz, etwa nach einer Wirbelsturmkatastrophe in Honduras (1974), während des Bürgerkriegs im Libanon (1976), in Afghanistan (1980), Äthiopien (1984), Armenien (1988), Somalia (1991), Bosnien-Herzegowina (1991) und der Türkei/dem Irak (1991). Sie bauen zerstörte Krankenhäuser wieder auf, leisten medizinische Versorgung in Flüchtlingslagern und bieten psychologische Betreuung an. Hinzu kommen Ernährungsprogramme und Impfkampagnen, wie etwa 1996 in Liberia und Nigeria, als mehrere Millionen Menschen gegen Gelbfieber und Hirnhautentzündung geimpft wurden, sowie Projekte zur Verbesserung der sanitären Verhältnisse und des lokalen Gesundheitswesens.
 
Das Nobelpreiskomitee verlieh Ärzte ohne Grenzen den Preis jedoch vor allem, weil »die Organisation die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit für humanitäre Katastrophen weckt und durch das Aufzeigen solcher Katastrophen ein stärkeres öffentliches Bewusstsein gegen Gewalt- und Machtmissbrauch ermöglicht«. Spätestens seit 1980, als MSF den »Marsch für das Überleben Kambodschas« organisierte, engagiert sich die Organisation verstärkt als Sprachrohr für Völker in Not. In Äthiopien prangerte die Organisation 1985 die Zwangsvertreibungen durch die Regierung öffentlich an. Während des Völkermords in Ruanda (1994) forderte Ärzte ohne Grenzen eine militärische Intervention der internationalen Staatengemeinschaft, und seit dem ersten Tschetschenien-Krieg (1996) kritisiert die Organisation öffentlich die Gräueltaten der russischen Armee.
 
 Grenzenlose Probleme
 
Die Aufgabenfelder sind in den drei Jahrzehnten seit der Gründung der Organisation nicht kleiner geworden: In manchen Regionen hat Ärzte ohne Grenzen das Elend gelindert, in anderen Krisengebieten, wie dem Sudan oder Afghanistan, wo MSF schon seit Ende der 1970er-Jahre vor Ort Hilfe leistet, treten die Mitarbeiter dagegen auf der Stelle, da die Länder nicht zur Ruhe kommen. Außerdem müssen sie stets damit rechnen, dass die Kriegsherren versuchen, die humanitäre Hilfe für ihre eigenen Zwecke zu instrumentalisieren. Auch tauchen neue, grenzüberschreitende Probleme auf, die nur durch internationale Zusammenarbeit gelöst werden können. Ein Beispiel hierfür ist die Austrocknung des Aralsees, die schwere Gesundheitsschäden für die Bevölkerung mit sich bringt. Globale Ursachen hat auch die unzureichende Verfügbarkeit von Medikamenten in ärmeren Ländern, wo die Ärzte der von MSF durchgeführten Projekte ihre Patienten immer häufiger unbehandelt nach Hause schicken müssen, da es für die Behandlung bestimmter Krankheiten keine wirksamen Arzneimittel gibt oder diese Medikamente unbezahlbar sind. Jährlich sterben rund 17 Millionen Menschen an behandelbaren Infektionskrankheiten wie der Schlafkrankheit, weil viele Krankheitserreger gegenüber herkömmlichen Medikamenten resistent geworden sind, bestehende Medikamente nicht mehr hergestellt werden oder unerschwinglich sind. Die Arzneimittelhersteller investieren jedoch nicht in neue Forschungsprojekte für Tropenkrankheiten, sondern konzentrieren sich lieber auf die Gewinn bringenden Produkte für die Absatzmärkte in den Industriestaaten. Um auf diese Probleme aufmerksam zu machen, hat Ärzte ohne Grenzen 1999 eine Medikamentenkampagne gestartet.
 
P. Göbel

Universal-Lexikon. 2012.

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